Blogparade: In was für einer Welt werde ich 2036 leben?

 

07. Juli 2036

Um 6:30 wache ich auf, drehe mich noch kurz zu Marielle und gehe gut gelaunt ins Bad.

Es ist Montagmorgen. Bereits seit ich denken kann, ist dies mein Lieblingstag. Nach einem viel zu langen Sonntag kehrt das Leben zurück auf die Straßen.

Seit ich denken kann… Das ist mittlerweile eine ganz schön lange Zeit. Ich habe bestimmt mit vier oder fünf Jahren angefangen zu denken. Zumindest habe ich aus diesem Alter die ersten Erinnerungen.

 

Erste Erinnerungen

Während ich Zähne putze, schweifen Bilder durch meinen Kopf, wie ich bei meinen Großeltern in der Sophienstraße auf dem Balkon gesessen und Rommee gelernt habe. Natürlich mit offenen Karten. Schließlich muss es etwa 1991 gewesen sein. Meine Hände waren noch gar nicht groß genug, um zwölf oder mehr Karten auf der Hand zu halten.

Was wohl die erste Erinnerung meiner Tochter ist, denke ich bei mir und spüle meinen Mund aus. Heute ist schließlich ihr großer Tag. Ihre letzte Abschlussprüfung, danach ist ihre Zeit in der Schule vorbei.

Es fühlt sich an als wäre meine eigene Einschulung erst letzte Woche und die meiner Tochter vor ein paar Tagen gewesen. Wie unterschiedlich unser Weg durch diese Zeit war, erstaunt mich immer wieder.

 

Entwicklung als Zauberwort

Ich gehe in die Küche und bereite uns einen Tee zu. Marielle setze ich einen Earl Grey auf, meiner Tochter und mir einen grünen Tee. Oben geht die Dusche an und so langsam kehrt das Leben auch in unser Haus zurück.

Während das Wasser beginnt zu kochen, hole ich die Müsli-Schalen aus dem Schrank und decke den Tisch mit Haferflocken, Obst, Joghurt und dem gerade fertiggewordenem Tee.

Es ist doch echt erstaunlich, wie sich das Schulsystem in den letzten 40 Jahren geändert hat. Zwar bin ich auch freudig zu meinem ersten Schultag gegangen und hatte Lust alles zu entdecken, was es zu entdecken gab. Aber in der fünften Klasse gab es die ersten Rücksetzer.

Unsere Tochter ging damals genauso freudig zur Schule und irgendwie dachte ich mir damals schon, dass sie viel mehr zum Entdecken hat als dies bei mir selbst der Fall war.

 

Erste Unterschiede

Bei mir selbst gab es Mathe, Deutsch, Werken, Sport, Religion und? hmm… für damals fortschrittliche Verhältnisse zwei bis drei AG-Angebote zu denen gefühlt keiner – oder zumindest ich nicht – gegangen ist.

Und ich war gegen 13 Uhr zu Hause!

Meine Tochter hatte die Möglichkeit Rechnen und Schreiben zu lernen und sich körperlich auszuprobieren. Allerdings konnte sie die Sachen selbst entdecken. Die Turnhalle verwandelte sich in einen Urwald oder eine riesige Lavalandschaft und sie konnte sich selbst erproben und kennenlernen.

Auch Rechnen und Schreiben war nicht durch Einschleifen der Bewegung oder Auswendiglernen des Zahlensystems gekennzeichnet. Durch Exploration hatte sie die Möglichkeit, sich in ihrem Lerntempo neuen Herausforderungen zu stellen.

Der Schultag endete bei ihr auch nicht um 13 Uhr, sondern es war völlig normal den Nachmittag in ihrer Schule zu verbringen. Gemeinsam mit Lehrern und Betreuern hatte sie sich mit ihren Freunden und Freundinnen einen Entwicklungsraum gebaut, in dem sie sich frei bewegen und lernen konnten.

 

Mittlerweile ist es 9 Uhr.

Zu unserem Frühstück gehört es, dass wir uns über unsere Vorhaben des Tages austauschen. So auch heute früh. Das ist auch der Grund, warum wir morgens so lange zusammensitzen. Der gemeinsame Start in den Tag mit dem Zuhören und Erzählen der jeweiligen Ziele hat sich zu einem Familienritual entpuppt.

Unsere Tochter hatte dies bereits früh gelernt.

Bereits in der Grundschule wurden die Kinder animiert, über ihre Ziele nachzudenken. Während zu meiner Zeit auf die Frage: „Wofür brauchen wir das überhaupt?“ ein müdes: „Ist doch egal, weil es im Lehrplan steht“ als Antwort kam, wurde in der Klasse meiner Tochter aktiv mit den Kindern erarbeitet, warum sie etwas lernen, was es ihnen für die Zukunft bringt, wie sie es einsetzen können und so weiter.

Noch viel spannender wurde es als die Fragen gestellt wurden: „Was willst du können?“ und „Was brauchst du, um es zu erreichen?“

In meinen Augen sind dies die zwei wichtigesten Fragen, um ziel- und lösungsorientiert arbeiten zu können. Das Lernen fängt an Spaß zu machen, die Motivation steigt und steigt und steigt.

 

Was für ein Wechsel in der Perspektive!

„Was will ich können? Und was brauche ich, um es zu erreichen?“

Als ich vor 30 Jahren mit Kindern angefangen habe zu arbeiten, war ein Satz allgegenwärtig: „Ich kann das nicht! Ich kann das nicht! Ich kann das nicht!“ Selbst als ich vor 20 Jahren den Schritt an eine Grundschule gegangen bin, war dieses Mantra in nahezu jeder Situation zu hören.

Ich habe mich immer gefragt, woher das kommt?

 

Die damalige Fehlerkultur

Aber klar, wir haben in unserer Schulzeit immer nur beigebracht bekommen, keine Fehler zu machen. Jeder Fehler wurde bestraft – PUNKTABZUG! Hingegen wurde die Entwicklung kaum oder besser gar nicht berücksichtigt.

Mir wurde nach vier Wochen Englischunterricht von meinem Lehrer gesagt: „Du kannst kein Englisch und wirst es nie können!“ Vier Jahre später kam meine Motivation durch einen geplanten USA-Aufenthalt zurück und ich brannte dafür, Englisch zu lernen. Ich bin in meinem Zimmer rumgetanzt und habe Vokabeln dabei gelernt. Ich habe mir ganz aktiv vorgestellt, wie es sein könnte, endlich Englisch zu sprechen. Ich hatte ein Ziel!

 

Die Entwicklung zählte nicht

Auf einmal konnte ich mich trauen, im Unterricht mündliche Beiträge zu liefern. Jede Stunde war ich anwesend (was zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr selbstverständlich war) und habe versucht, zu jeder Frage etwas beizutragen.

Am Ende des Jahres dann die Ernüchterung: Schriftlich eine 4- das war bereits klar. Aber mündlich bekam ich eine glatte 4 (anstelle einer 5+ im Halbjahr zu vor). Die Worte der Lehrerin: „Ja, ich merke, dass du begonnen hast dich zu verbessern, aber du bist eben noch total schlecht. Deshalb gibt es nur die 4.“

Das war der Zeitpunkt an dem ich wusste, dass ich in und von der Schule nichts mehr lernen werde!

 

Neue Motivation durch neue Perspektive

Umso mehr beneide ich meine Tochter. Der Perspektivwechsel weg von „Das kannst du noch nicht“ hinzu „Was willst du können und was brauchst du dafür?“ verändert die komplette Einstellung.

Sie hatte auch in der weiterführenden Schule viel Spaß und war sehr motiviert, neue Dinge zu lernen und zu erreichen. Durch selbstgesteckte und erarbeitete Ziele wusste sie, was sie dafür braucht. Bei der Umsetzung wurde sie unterstützt und in ihren Interessen gefördert.

Was für sie ein natürlicher Lernprozess war und völlig selbstverständlich umgesetzt wurde, war für mich ein harter Weg der Autodidaktik. Die Erkenntnis, dass das System mich kaputt macht, mich in meiner Kreativität einschränkt und mein Potential stark dezimiert, kam zwar früh, aber der Weg daraus war lang.

 

09:30 Uhr und wir machen uns auf den Weg zu unseren Projekten.

Marielle führt ein sehr gut laufendes Café. Ein langjähriger Traum, den sie sich vor ein paar Jahren endlich erfüllt hat. Unsere Tochter ist auf dem Weg zu ihrer Abschlussprüfung. Und ich beschäftige mich weiterhin damit, wie das Schul- und Bildungssystem an die Bedürfnisse und Anforderungen der Akteure (Kinder, Erzieher, Eltern, Leiter) angepasst werden kann.

 

Ausbildung des Lehrpersonals

Ein weiterer Teil meiner Arbeit ist die Ausbildung und Schulung des Lehrpersonals durchzuführen. Und dieses auf die vielfältigen Anforderungen eines entwicklungs- und zielorientierten System vorzubereiten.

Auch hier spielt der Perspektivwechsel eine große Rolle. Im klassischen Schulsystem aus den 90er und 2000ern wurde versucht, über klare Regeln und Strukturvorgaben eine Form der Ordnung zu schaffen, in denen Kinder die Elemente des aufgestellten Lehrplans erarbeiten können.

 

Kooperation statt Diktatur

Heute gestalten Kinder und Lehrer gemeinsam einen Raum, der individuelle Anforderungen an die Kinder stellt, die sich innerhalb dieses Raumes bewegen. Die individuellen Anforderungen animieren die Kinder wiederum zu explorieren und fördern die jeweilige Entwicklung.

Durch die Entstehung eines solchen Raumes, können ganz neue Formen der Ordnung und Struktur existieren. Diese werden heute nicht mehr dem Kind übergestülpt, sondern das Kind selbst ist aktiver Teil des selbstaufgestellten Regelwerks.

 

Erste Veränderungen vor 20 Jahren

Es ist ein herrlicher Morgen und auf dem Rad kann ich den Weg zur Arbeit direkt doppelt genießen. Die frische Luft füllt meine Lungen und die Sonnenstrahlen wecken das Vitamin D in meiner Haut. Ein tolles Gefühl.

Angefangen mit dem Rad zur Arbeit zu fahren, hatte es 2016. Nachdem ich mit meinem Studium fertig war, begann ich mit meinem ersten Job an einer Grundschule. Bereits vor 20 Jahren war die Veränderung zu meiner Zeit in der Grundschule enorm.

Die Kinder konnten bereits den ganzen Tag in der Schule und in der Betreuung bleiben. Offene Konzeptideen gaben die Richtung der Entwicklung vor und die Kinder wurden aktiv mit in die Gestaltung des eigenen Lern- und Entwicklungsraumes einbezogen. Vor 35 Jahren wäre das noch undenkbar gewesen.

 

Dynamik ist doch vorhanden

Ich war sehr positiv von der Veränderung überrascht und schöpfte Hoffnung, dass das starre System doch zu Veränderungen bereit und vor allem dazu in der Lage ist. Meine Ambitionen nachhaltige Veränderungen in unserem Bildungssystem zu fördern, wurden damals sehr gestärkt.

Mit neuen Partnern und Gleichgesinnten wurde der Weg bereitet, ein Modell vorzustellen, das auf die Entwicklung des Kindes und nicht auf die Vollstreckung des Lehrplans ausgerichtet war.

 

Gemeinsame Freude – Gemeinsame Reflektion

Heute sollte es aber nur ein kurzer Arbeitstag werden. Die Prüfung war bereits um 14 Uhr beendet und wir waren um 15 Uhr in unserem Café verabredet.

Dort angekommen begrüßen mich zwei freudige Gesichter und ich bedanke mich mit herzlichen Umarmungen. Ein schönes Gefühl, Teil einer Familie zu sein, die füreinander da ist.

Wir hören unserer Tochter aufmerksam zu, wie sie von der heutigen Prüfung, ihren Erlebnissen und ihrer gewonnen Erfahrung berichtet. Als wäre es ihre zweite Natur, reflektiert sie über ihre Handlungen und wie sie in Zukunft in ähnlichen Situationen agieren würde.

Das ist auch so eine Kompetenz, die Marielle und ich uns hart erarbeiteten mussten. Selbstreflektion war in unserer Schulzeit noch ein Fremdwort. Nach einer Klausur stand da in rot eine Note, ein paar Punkte, mal mehr mal weniger Haken und Kreuze. Danach kam die Aufforderung die Klausur zu verbessern. Niemand hatte uns damals gefragt, was wir an der Prüfung oder dem Inhalt gut fanden, was wir hätten besser machen können oder worauf wir das nächste Mal achten wollen.

Und da ist er wieder.

 

Dieser Perspektivenwechsel!

Bei uns herrschte noch eine (fast) vollkommene Ergebnisorientierung. Das bedeutete nicht, dass nur das Ergebnis an sich (als 81 als Ergebnis von 9 x 9) als solches zu verstehen war, sondern der Lösungsweg wurde inbegriffen. Es gab einen Lösungsweg, nämlich den richtigen und wenn dieser nicht beschrieben oder angewendet wurde, dann war das Ergebnis falsch.

Ganz anders sieht es aus, wenn entwicklungs- und zielorientiert gehandelt wird. Dann entstehen auf einmal Fragen wie: „Ist mein Ziel gegenüber meinen Kompetenzen angemessen?“, „Wenn ich mein Ziel erreicht/verfehlt habe, dann kann ich daraus was für die kommenden Situationen mitnehmen?“ oder „Welche Handlungen haben dazu geführt, dass ich mein Ziel erreich/verfehlt habe?“

Die erste Perspektive lässt Abschreiben zu, denn die Ergebnisse lassen sich leicht von Mitschülerinnen oder Mitschülern ergattern. Bei Entwicklungsschritten und individuellen Zielen ist ein Abschreiben nicht mehr Möglicht, viel mehr muss ein Austausch entstehen, damit man sich inspirieren lassen kann. Aus einer passiven wird eine aktive Interaktion.

 

Vorfreude auf die nächsten 20 Jahre Entwicklung

Während Marielle und ich den Tag gemeinsam ausklingen lassen und unsere Tochter mit ihren Freunden und Freundinnen ausgiebig feiern geht, bin ich beeindruckt, wie sich das Bildungssystem durch einfache Perspektivwechsel verändert hat.

Dabei bin ich dankbar für jede treibende Kraft, die im Verlauf der letzten 20 Jahre dafür gesorgt und sich dafür eingebracht hat, dass diese Wechsel möglich wurden.

Ich bin sehr gespannt, was die nächsten 20 Jahre bringen werden. Schließlich haben wir noch einen weiten Weg vor uns.

 

Abschlussbemerkung

Vielen Dank Yasemin für die interessante Fragestellung und für die Anregung mich gedanklich so weit in die Zukunft zu bewegen. Daher habe ich sehr gerne an deiner Blogparade „In was für einer Welt werde ich 2036 leben?“ teilgenommen.

Es hat mir sehr viel Spaß bereitet, meine Gedanken schweifen zu lassen und bin auf deine und die Reaktionen der Leserinnen und Leser sehr gespannt.

Bildung ist für uns die Investition mit der höchsten und langfristigesten Rendite. Hier lohnt sich jeder investierte Cent und jede investierte Sekunde.

Was ist deine Meinung zur Entwicklung unseres Schulsystems? Schreibe sie in die Kommentare! Ich freue mich über einen tollen Austausch.

Beste Grüße
Mike

5 Kommentare
  1. Dominik - Finanziell Frei mit 30 sagte:

    Ich kann mich Dummerchen nur anschließen.
    Es ist eine wirklich schöne und optimistische Zukunftsvision, die wohl noch viel Arbeit benötigt.

    Das größte Problem ist hierbei wahrscheinlich nicht das aktuelle Schulsystem in seiner exakten Ausgestaltung, sondern die Ausführung der Lehrer und sonstigen an der Schule beteiligten Personen.
    Wenn immer noch die Einstellung herrscht, dass keine Fehler gemacht werden dürfen oder dass den Kindern negative Glaubenssätze eingebläut werden, dass sie irgendetwas nicht könnten, wird es wahrscheinlich schwierig.
    Ich bin ja noch nicht so lange aus der Schule raus und weiß daher noch so ziemlich genau, wie es aktuell bei uns abläuft. Es wäre wirklich schön, wenn sich die Schule auf diese Weise verändern würde und so positiv wäre.
    In der Oberstufenzeit hatte fast keiner Lust zur Schule zu gehen und die Schulzeit ist für die meisten Menschen eine große Qual, weil sie darin keinen Sinn sehen.
    So ist das einzige Ziel die Prüfungen am Ende möglichst gut zu bestehen und dann endlich etwas anderes zu machen.
    Was man überhaupt machen möchte ist den allerwenigsten klar, weil es keinerlei Vorbereitung von der Schulseite aus gibt. So irren viele jetzt noch durch die Welt und versuchen herauszufinden, was sie in ihrem Leben machen wollen und was ihre Ziele sind.

    Schöne Grüße
    Dominik

    Antworten
    • Mike sagte:

      Hallo Dominik,

      vielen Dank für deinen ausführlichen Beitrag zur Diskussion!

      Das Problem, dass du beschreibst, höre ich nur zu oft. Ich arbeite seit bereits zehn Jahren mit Kindern und Jugendlichen zusammen und alle berichten das Gleiche:

      „Ich lerne nicht, wie es nach der Schule weitergehen soll“

      „Ich habe überhaupt keine Ahnung, was ich danach machen möchte“

      „Ich weiß nicht, wofür ich das überhaupt brauche“

      „Meine Lehrer sind so unfähig, die wissen doch nicht mal selbst wovon sie reden“

      Diese Liste könnte wohl beliebig fortgesetzt werden. Und ist leider auch kein Auszug einer Minorität, sondern die Masse, die so denkt. Hier besteht deutlicher Handlungsbedarf.

      Ob diese Veränderung aus dem Schulsystem selbst kommen kann oder ob externe Träger oder Unternehmen eine Veränderung herbeiführen können, kann ich nicht beurteilen. Aber das Bedürfnis danach wird immer lauter und es wird Wege geben, es zu stillen.

      Wie hast du denn herausgefunden, was du machen möchtest?

      Beste Grüße
      Mike

      Antworten
  2. Dummerchen sagte:

    Hallo Mike,

    da zeichnest Du aber eine wirklich schöne Vision von der Zukunft. Ich wünsche Dir bzw. Euch von Herzen, dass sie so in Erfüllung geht. Dass dies möglich ist, glaube ich ganz fest.

    Ich habe allerdings große Zweifel, dass die Vision sich verallgemeinern lässt und jedes Kind Schule und Bildung derart erfahren kann und mit der ihm gegebenen Freiheit umgehen kann. Ich selbst habe vor über 35 Jahren als Kind der Montessori-Pädagogik die Freiarbeit und damit das selbstbestimmte Lernen hautnah erleben dürfen(*). Mir ist diese Art zu lernen leicht gefallen, aber nicht jedes Kind bringt die Voraussetzungen mit, mit so viel Freiheit derart umzugehen, dass auch ein Wissens-, Kompetenz-, Fähigkeitszuwachs entsteht. Viele nutzen die Zeit wohl eher zum Spielen. Früher war das bei uns Fangen und Verstecken, heute wohl eher PC- bzw. Handyspiele. Natürlich ergeben sich dadurch auch soziale Kompetenzen, aber dazu bräuchte es wohl keine Schule.

    Das Menschenbild, das Deinem Blogeintrag zugrunde liegt, ist sehr optimistisch gezeichnet – ich bin froh, das zu lesen. Vor allem vor dem Hintergrund, dass Du gerade erst in diesem Umfeld gestartet bist. (Darf man fragen, ob als Referendar, Quer-bzw. Direkteinsteiger oder ausgebildeter Lehrer?) Dieser Enthusiasmus ist wichtig und nur Lehrer/Pädagogen/Erzieher mit solch einer positiven Grundeinstellung können in meinen Augen auch wirklich etwas bewegen. Ich fürchte allerdings, dass die Realität eine andere ist. Kinder werden bereits lange vor ihrer Schulzeit durch ihr nächstes Umfeld (meist Eltern und Familie) geprägt und nehmen Glaubenssätze schon früh an. „Das kannst Du nicht.“, „Du bist ungeschickt/zu dumm/zu klein/etc.“ lernt es ggf. schon lange vor seinem Schuleintritt. (Dass auch Lehrer zu solchen Glaubenssätzen beitragen können ist bedauerlich und ein Zeichen für einen schlechten Lehrer.) Der Lehrer muss mit diesen Eingangsvoraussetzungen arbeiten und das beste daraus machen.

    Da kann das Bildungsangebot noch so offen und hilfreich gestaltet sein, vielfach werden Kinder wohl auch eine klare Hilfe (klar formulierte Lernziele) benötigen und haben nicht diese intrinsische Motivation, in ihrem Lerntempo sich selbst alles zu erschließen. Lernzirkel, Stationenlernen, Gruppenpuzzle und wie die Methoden alle heißen, die ein selbstorganisiertes Lernen fördern sollen – sie alle basieren darauf, dass die Kids wollen. Dieses Wollen zu fördern, muss das Ziel sein, das der Lehrer erreichen muss. Den Rest machen die Kids dann sicher. Leider(?) ist der motivierende(!) Lehrer nicht die einzige Person, die Einfluss hat. Daher meine große Skepsis, dass das Bildungssystem von sich heraus die Art zu lernen verändern kann. Wenn die Familien (die Gesellschaft) nicht mitziehen, ist die Mühe eher vergebens.

    Ich freue mich, von einer motivierten Lehrkraft solche Visionen zu lesen und wünsche Dir, dass Du möglichst viel von diesem Enthusiasmus behältst.

    Bis bald 😉
    Dummerchen

    (*) Ganz so neu sind viele Konzepte nicht – in der Bildungspolitik wird jede Sau immer mal wieder durchs Dorf getrieben um dann einige Jahre später wieder verteufelt zu werden.

    Antworten
    • Mike sagte:

      Hallo Dummerchen,

      vielen Dank für deinen sehr ausführlichen Beitrag! Da ich dir keine 08/15 Antwort geben wollte, hat die Beantwortung etwas gedauert.

      Montessori ist bestimmt ein guter Ansatz, wenn davon ausgegangen wird, dass alle Kinder in ihrer elterlichen und sozialen Umgebung respektvoll und unterstützend behandelt werden.

      Diese Annahme ist meines Erachtens allerdings eine Utopie, die wir nie erreichen werden. Deshalb wird es zu stark abweichenden, individuellen Bedürfnissen kommen (was sehr gut ist, denn wir leben von Diversifizität).

      Es bedeutet allerdings auch, dass diese Bedürfnisse beachtet und entsprechend befriedigt werden müssen. Ein Kind, dass sich nach Struktur, Regeln und Anleitung sehnt, weil es diese Sachen bisher in keiner Form kennengelernt hat, ist in einem komplett freien System, in dem es immer tun und lassen kann, was es möchte, an der völlig falschen Stelle.

      Ebenso wird ein Kind das in einem sehr strengen, konservativen Haushalt aufwächst, ein starkes Bedürfnis nach Freiraum und Exploration entwickeln. Auch diesem gilt es gerecht zu werden und damit das Kind in der Entwicklung zu unterstützen.

      Aus meiner Sicht (und das sollten auch die Kernpunkte im obigen Text sein) sind dafür drei Perspektivwechsel zum jetzigen System notwendig:

      1. Kindergarten und Schule gehören nicht den Lehrern, der Schulleitung, dem Staat oder der Gesellschaft, sondern den Kindern, die sie besuchen. Dies ist wichtig, damit die Kinder ihre Schule gestalten können, diese als ihren Ort wahrnehmen und gerne dort Zeit verbringen.

      Mit dem Trend und der Forderung nach Ganztagsangeboten ist dieser Perspektivwechsel unabdingbar!

      2. Hin zu „Was will ich können und was brauche ich dafür?“ und weg von „Das musst du lernen, aber ich kann dir nicht sagen wofür!“ oder „Ich kann das nicht!!!11!1elf“ Dabei ist noch nicht einmal wichtig, dass Kinder darauf verzichten Mathe, Englisch, Deutsch, Chemie, Bio und so weiter zu lernen, sondern dass die Herangehensweise sich ändert.

      In jungen Jahren kann das der Wunsch sein, schreiben und lesen zu können. Anstatt die Buchstaben und Zahlen einzuschleifen können hier mit den Kindern bereits Ziele definiert werden (z. B. „Ich möchte meiner Mama zum Geburtstag eine Karte schreiben!“) und dann ausgearbeitet werden, was dafür benötigt wird (Bei drei Sätzen vermutlich 25 % des Alphabets).

      Später können Jugendliche herausarbeiten, was sie in ihrem Leben gerne erreichen wollen, was dazu nötig ist und welche Schwerpunkte sie sich setzen möchten. Ich halte es für eine Gesellschaft, die Spezialisten benötigt für Irrsinnig 13 Jahre lang alle durch die selben Themen durchzuzerren.

      In meinem jetzigen Leben brauche ich keine Religions-, Kunst-, Musik-, Geschichts-, Chemie- und Biokenntnisse, die über den Grundstoff der ersten acht bis zehn Jahre Unterricht hinausgehen. Vieles habe ich vergessen und war mir damals bereits völlig egal. Dafür habe ich Jahre verschwendet mich nicht in den Bereichen zu spezialiseren auf die ich bereits sehr viel Lust hatte und die Motivation zeigte sehr viel Zeit zu investieren.

      3. Weg von sturem Erebniswahn und hinzu Entwicklung. Der Übergang von Punkt zwei zu drei ist zwar fließend, allerdings ist dieser Shift zwingend notwendig, damit beides funktionieren kann.

      Die Stichworte sind Selbst-, Fremd- und Gruppenreflektion.

      Und das sind Dinge, die unsere Gesellschaft dringend benötigen. Zu oft höre ich Sätze wie „Das war schon immer so, das wird auch immer so bleiben“, „Never change a running system!“ oder „Wieso sollte ich das tun, es reicht doch was ich mache!“

      Diese Sichtweise würde nur dann funktionieren, wenn ALLE so denken würden. Tun sie aber nicht, da sind Leute wie Steve Jobs, Michael Jackson oder Michael Schumacher, die einfach sagen: „Noe, ich will aber, dass das so funktioniert und wir ändern das jetzt. Ist mir doch egal, ob das vorher noch keiner gemacht hat!“

      Menschen mit dieser Denkweise gibt es überall und sie sorgen dafür, dass die Welt sich weiterdreht und weiterentwickelt. Dazu gehört sich selbst und andere zu reflektieren und darüber nachzudenken, was an meinen Handlungen jetzt gut war, was verbessert werden könnte und wie ich in Zukunft mit ähnlichen Situationen umgehe.

      Ansonsten wird man schnell zum Gefangenen im Gefängnis seiner Umgebung.

      Interessantweise schließt entwicklungsorientiertes Handeln ein Ergebnis nicht aus, sondern fordert es sogar in seiner besten Qualität! Ergebnisorientiertes Handeln schließt die Entwicklung sehr wohl aus, da der Denkprozess mit dem Ergebnis ändert und dann entweder rauskommt „Ich kann das nicht und werde es nie können“ oder „Naja, ich kann es doch schon, warum sollte ich noch was machen?“

      …………………………………………….

      Mein Beruf:
      Ich arbeite beim Träger einer Grundschule und bin dort in drei Bereichen tätig: Unterstützund der Lehrer im Unterricht, Organisation und Nachmittagsbetreuung.

      Klar gibt es viele Stereotype, Verhaltensweisen und Einstellungen die Kinder von zu Hause aus mitbringen. Aber als Lehrer oder Erzieher arbeite ich mit den Kindern mehr zusammen als irgendeine andere Person in dieser Zeit.

      Eltern verbringen deutlich weniger Zeit mit ihren Kindern in Lernumgebungen als Lehrer und Erzieher.

      Und wenn ich es in acht Monaten bei drei Mal in der Wochen schaffe einen nachhaltigen Perspektivwechsel von fünft- und sechst-Klässern zu bewirken, dann kann das jede Lehrkraft in der Grundschule, die eine Klasse fünf Stunden pro Tag, fünf Tage die Woche, 40 Wochen im Jahr, zwei Jahre lang betreut!

      Und wenn dann auch noch die Erzieher in der Kinderkrippe und im Kindergarten mit dem Perspektivwechsel beginnen, dann besteht eine echte Chance eine Veränderung zu bewirken!

      Dass es einen gesellschaftlichen Perspektivwechsel geben muss, stimme ich dir voll und ganz zu. Hier befinden wir uns aber in der typischen Huhn-oder-Ei-Frage. Ändert sich zuerst das Schulsystem oder erst die Gesellschaft? 🙂

      Beste Grüße und ich freue mich von dir zu lesen 🙂
      Mike

      Antworten

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